Stellungnahme des Bundesverbandes Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe zu den Übergriffen in der Silvesternacht
In der Silvesternacht ist in Deutschland eine große Anzahl von Frauen Opfer von sexualisierter Gewalt und Belästigung geworden. Zunächst erregten die massenhaften Übergriffe in Köln eine große öffentliche Aufmerksamkeit, mittlerweile melden sich immer mehr Betroffene auch aus anderen Städten bei der Polizei, darunter aus Hamburg und Stuttgart.
Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) erklärt sich solidarisch mit allen Betroffenen. Die im bff zusammengeschlossenen Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe stehen parteilich an der Seite der Betroffenen und verurteilen die Täter. Der bff möchte die betroffenen Frauen ermutigen, sich an eine spezialisierte Fachberatungsstelle für sexualisierte Gewalt zu wenden. Diese Beratungsstellen bieten Betroffenen und deren Angehörigen eine unbürokratische, parteiliche und auf Wunsch anonyme Unterstützung an.
Das Erleben sexualisierter Gewalt kann für Betroffene gravierende Auswirkungen haben. Für viele Frauen wird durch einen sexuellen Übergriff das Vertrauen in Sicherheit und zwischenmenschliche Beziehungen erschüttert. Ein sexueller Übergriff ist eine massive Verletzung der körperlichen und sexuellen Integrität. Die Betroffenen haben ein Recht auf Unterstützung und Entschädigung.
Frauenberatungsstellen weisen seit Jahrzehnten darauf hin, dass die Angst vor sexuellen Übergriffen und sexualisierter Gewalt Frauen in ihrer Bewegungsfreiheit und gesell-schaftlicher Teilhabe einschränkt. Die tagtäglich ausgeübte sexualisierte Gewalt hat niemals nur Auswirkungen auf die direkt Betroffenen, sondern führt dazu, dass viele Frauen als gefährlich geltende Orte oder Gegebenheiten meiden. Es ist somit eine dauerhafte gesamtgesellschaftliche gleichstellungspolitische Aufgabe, sexualisierte Gewalt zu bekämpfen. Die Maßnahmen dürfen sich nicht auf kurzfristige Reaktionen auf gemeldete Übergriffe beschränken.
Die Anzeigenbereitschaft seit Silvester ist erfreulich hoch
Studien1 belegen, dass jede siebte Frau in Deutschland schwere Formen sexualisierter Gewalt, d.h. sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung erlebt. Die Täter kommen in der Mehrzahl der Fälle aus dem sozialen Nahraum, nicht selten handelt es sich um Ehe- oder Beziehungspartner.
Bei sexueller Belästigung sind die Zahlen noch höher: Mehr als jede zweite Frau ist von sexueller Belästigung betroffen, auf der Arbeit, auf der Straße oder an anderen Orten.
Die Bereitschaft der Betroffenen, einen sexuellen Übergriff bei der Polizei anzuzeigen, ist üblicherweise gering. So haben unterschiedliche Studien ergeben, dass nur 5-15% der betroffenen Frauen Anzeige erstatten. Das große Ausmaß an sexualisierter Gewalt in Deutschland wird üblicherweise weitgehend nicht öffentlich bekannt und kann nicht sanktioniert werden.
Dabei sind die Gründe, warum Betroffene sich gegen eine Anzeige entscheiden, sehr gut nachvollziehbar. Denn Betroffene können sich normalerweise eben nicht sicher sein, dass sie auf Verständnis und Mitgefühl stoßen oder dass ihnen überhaupt geglaubt wird.
Dies ist erfreulicherweise seit den Ereignissen in Köln ganz anders und mittlerweile melden sich auch Frauen, die in anderen Städten bei Silvesterfeiern Übergriffe erlebt haben.
Das zeigt sehr eindrucksvoll, wie ermutigend eine öffentliche und politische Empörung über sexualisierte Gewalt für die Betroffenen wirken kann. Leider ist das Ausmaß der Empörung eine absolute Ausnahme und bedauerlicherweise wahrscheinlich zunächst auf den mutmaßlich nicht-deutschen Hintergrund der Täter zurückzuführen. Eine Unterscheidung der öffentlichen oder politischen Reaktionen auf sexualisierte Gewalt je nach Herkunft der Täter wird jedoch dem Thema nicht gerecht. Die Herkunft, Religion oder das Aussehen eines Täters sollten in den Debatten nicht von Belang sein und auch nicht das Ausmaß der Empörung bestimmen.
Die Gesetzeslage ist nicht ausreichend
Aktuell mehren sich politische und mediale Äußerungen, dass verdeutlicht werden müsse, dass solche Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung in Deutschland keinen Platz haben. Der bff begrüßt dieses Anliegen und tritt seit langem dafür ein, dass sich ein solcher gesellschaftlicher und politischer Konsens formiert. Allerdings ist die sexuelle Selbstbestimmung in Deutschland nicht voraussetzungslos geschützt. Der bff und viele andere Organisationen fordern seit Jahren, dass die Schutzlücken im Straftatbestand der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung endlich geschlossen werden. Leider ist es immer noch so, dass maßgeblich für die Strafbarkeit eines Übergriffs nicht etwa der erklärte Wille einer Person ist, sondern faktisch die Frage, ob sie sich ausreichend zur Wehr gesetzt hat und der Täter somit Gewalt anwenden musste.
Auch bezogen auf die Taten in Köln ergibt sich – für den Tathergang gemäß den bisherigen Darstellungen in den Medien – eine Schwierigkeit für die Strafbarkeit. Dem bff sind schon lange zahlreiche Fälle bekannt, in denen Frauen an öffentlichen Orten belästigt, begrabscht und an Geschlechtsteilen angefasst wurden. In der Regel enden diese Taten für die Täter straflos, weil aufgrund der Überrumpelung der Betroffenen keine Nötigungsmittel angewendet werden müssen, um die sexuelle Handlung zu begehen. Solche Überraschungsangriffe sind – so die Erfahrung der Fachberatungsstellen und von Rechtsanwältinnen – nicht durch den Straftatbestand der sexuellen Nötigung erfasst und damit systematisch straffrei3.
Es ist zu hoffen, dass die polizeilichen Ermittlungen in Köln eine Inverantwortungnahme der Täter erlauben, es ist aber zu befürchten, dass die Bestrafung hauptsächlich wegen der zusätzlich begangenen Diebstahl- und Raubdelikte stattfinden wird und nicht aufgrund der sexuellen Übergriffe.
Der bff bekräftigt deshalb noch einmal die Forderung, dass die sexuelle Selbstbestimmung in Deutschland voraussetzungslos geschützt werden muss und der Straftatbestand der sexuellen Nötigung dringend einer Reform bedarf.
Was sollen Frauen in solchen Situationen tun? Wie können sie sich schützen?
Diese Fragen wurden in den letzten Tagen vielfach an den bff und die Fachberatungsstellen herangetragen. Sie entspringen dem Bedürfnis nach Sicherheit und sind mehr als verständlich. Hilfreich kann es beispielsweise sein, bei drohenden Übergriffen im öffentlichen Raum andere Anwesende direkt anzusprechen und um Hilfe zu bitten und bei Gefahr die Polizei zu rufen.
Allerdings ist in Situationen drohender Übergriffe den Betroffenen oft kein planvolles Handeln möglich, sie haben Angst, sind schockiert und alles geht viel zu schnell. Das weiträumige Veröffentlichen von Verhaltenstipps für potenzielle Opfer birgt die Gefahr, dass sich Betroffene nach einem Übergriff für ihr vermeintlich unzureichendes oder falsches Verhalten schämen.
Die Zielrichtung muss eine andere sein. Die aktuellen Ereignisse verdeutlichen einmal mehr, dass es wirksamer Strategien zur Prävention und zum Schutz vor sexualisierter Gewalt bedarf, und zwar solcher, die Frauen nicht die Verantwortung dafür geben, was passiert ist. Denn die Täter müssen ihr Verhalten ändern und nicht die (potenziellen) Opfer.
Es braucht Polizei und Sicherheitsdienste, die bei öffentlichen Großveranstaltungen sensibilisiert für das Problem der sexuellen Übergriffe vorgehen und gut geschult sind für die Dynamik sexualisierter Gewalt und das Vorgehen der Täter. In einer solchen Menschenmenge wie in Köln kann sich keine Frau alleine schützen.
Und es braucht aufmerksamkeitsstarke Kampagnen im öffentlichen Raum, die deutlich machen, dass die Grenzen anderer Personen und deren sexuelle Integrität unantastbar sind. Es sind die (potenziellen) Täter, für die Verhaltenstipps nötig sind. Und es bedarf einer gesellschaftlichen Debatte über das Geschlechterverhältnis. Gebraucht wird Aufklärung und Sensibilisierung, die im Kindergarten beginnt und sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche zieht. Die Fachberatungsstellen leisten solche Sensibilisierung seit mehr als 30 Jahren, weitgehend unterbezahlt und prekär. Auch hier ist die Politik gefordert, die aktuell angemahnte Bekämpfung dieser Gewalt mit finanziellen Mitteln zu unterlegen, damit die Präventionsmaßnahmen angemessen verstärkt werden können. Denn sexualisierte Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem und muss gesamtgesellschaftlich bekämpft werden.
Berlin, 08.01.2015